Die Kunst der Obstbrände:
Im Strudel des Alltags neigen wir dazu, die Schönheit im Gewöhnlichen zu übersehen. Doch schauen wir genauer hin, verbirgt sich hinter den vermeintlich alltäglichen Dingen eine unschätzbare Tiefe. Entlang der Landstraßen und auf Streuobstwiesen offenbart sich Tradition, Handwerkskunst und eine stille Eleganz: Die Obstbäume, die dort wachsen, sind mehr als nur Fruchtspender vergangener Zeiten – sie sind lebendige Symbole der jahrhundertealten Verbindung zwischen Mensch und Natur.
Geduldig verweilen diese Bäume am Straßenrand. Ihre Zweige tragen Früchte, die im Laufe der Jahreszeiten reifen und uns mit ihrem Geschmack und ihrer teils einzigartigen Aromatik beschenken. Es ist ein großartiges Vergnügen, in einen reifen Gravensteiner Apfel, einen grünen Fürstenapfel oder eine gute Luise zu beißen. Namen, die neugierig machen! Aber auch Namen vergangener Zeit, die wie verborgene Schätze darauf warten, von uns neu entdeckt zu werden. Wer weiss heute noch, wo es Bäume mit seltenen Sorten gibt?
Es ist auf faszinierende Weise möglich, das Aroma seltener Obstsorten in Obstbränden einzufangen. Seit Jahren versuchen Brenner nördlich der Alpen, wie zum Beispiel Humbel aus der Schweiz, alte Sorten wiederzuentdecken: Diese Obstsorten, die den verwöhnten Gaumen der Konsumenten im Supermarkt kaum noch interessieren, zeigen erst als Brand ihr charaktervolles und komplexes Aromenprofil.
Die Kunst der Geduld und des richtigen Zeitpunktes
Obstbäume lehren uns die Kunst der Geduld. Ihre Früchte benötigen Zeit, um zu reifen, und ihre aromatische Schönheit entfaltet sich in ihrem eigenen Tempo. In einer Welt, die oft von Schnelligkeit geprägt ist, erinnern uns die Bäume daran, dass wahre Wertschätzung Zeit braucht. Anders als die meisten Rohstoffe für Spirituosen durchlaufen sie Jahr für Jahr den Zyklus des Austriebs, der Blüte, der Fruchtreife und der Winterruhe. Jeder einzelne Abschnitt dieses Zyklus trägt einen bedeutenden Teil zum Endergebnis bei. Währenddessen bedarf es intensiver Baumpflege.
Die Qualität des Obstbrands hängt zu etwa achtzig Prozent von der Wahl der Rohstoffe ab. Deshalb widmen erfahrene Obstbrenner, neben der Pflege ihrer Obstplantagen, besondere Aufmerksamkeit auf die Auswahl der Früchte. Die Herausforderung liegt darin, den richtigen Zeitpunkt für die Ernte zu finden. Oft ist dies ein Wettlauf gegen unbeständiges Wetter, Schädlinge und den idealen Reifegrad der Früchte. Es ist eine Kunst, die Früchte genau dann zu ernten, wenn sie ihren optimalen Reifegrad erreicht haben – nur so kann die bestmögliche Aromatik und Geschmacksqualität im Obstbrand gewährleistet werden. Dieser sorgfältige Auswahlprozess ist von entscheidender Bedeutung, um hochwertige und aromatische Obstbrände zu produzieren.
Ertrag und Qualität: Das Arbeiten mit der Natur
Trotz aller Bemühungen und sorgfältiger Pflege der Plantagen sind Ertrag und Qualität der Ernte oft stark abhängig von den natürlichen Elementen wie Sonne, Regen und Temperatur. Jedes Jahr bringt unterschiedliche Wetterbedingungen mit sich, die einen erheblichen Einfluss auf die Früchte haben. Dies wiederum führt zu einer jährlichen Variation in der Qualität und Intensität der Aromen sowie in der Menge der geernteten Früchte. Obstbauern und -brenner müssen sich auf diese natürlichen Schwankungen einstellen und ihre Herstellungsmenge entsprechend anpassen. Dies erfordert nicht wenig Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, um die bestmöglichen Ergebnisse unter den gegebenen Bedingungen zu erzielen.
So steht auch Etter, renommierter Hersteller des Zuger Kirsch AOP (Appellation d’Origine Protégée), vor jährlichen Ernteschwankungen: Der Betrieb bezieht seine Kirschen ausschliesslich von regionalen Obstbauern und kann dabei auf Erntemengen zwischen 20 und 350 Tonnen pro Jahr zurückgreifen. Diese jährlichen Schwankungen sind charakteristisch für die Obstbranche. Die Schwierigkeit des Obstbrennens liegt darin, die einzigartigen Charakteristika jeder Ernte zu nutzen und dennoch konsistente Qualitätsprodukte herzustellen.
Obstlese im Herbst: Die Guten ins Töpfchen
Im Spätsommer, wenn die Sonne noch immer wärmt und die Blätter allmählich ihre Herbstfarben annehmen, beginnt die zweite Obsternte des Jahres. Die Obstlese markiert einen richtungsweisenden Moment im Jahreszyklus der Obstbrenner und bestimmt ihren Lebensrhythmus. Auch heutzutage ist dies zeitaufwändige Handarbeit, bei der reife Früchte behutsam behandelt werden müssen. Die Zeiten, in denen halbvergammelte Früchte in die Vergärung gegeben werden, sind lange vorbei. Florian Faude von Faude feine Brände, immer für einen markanten Spruch gut, bringt es auf den Punkt: „Was ich nicht in den Mund stecken möchte, sollte ich tunlichst auch nicht brennen!“
Die Auswahl der Früchte ist ein arbeitsintensiver Prozess, der die Qualität wesentlich erhöht. In einigen Fällen, wie zum Beispiel bei der Damaszenerpflaume im Kanton Jura in der Schweiz, dürfen nur die Früchte gebrannt werden, die in voller Reife vom Baum fallen. Um dies zu gewährleisten, wird zwei Wochen vor der Ernte kein Vieh mehr auf die Streuobstwiesen gelassen. Das Gras wird gemäht und die verbliebenen Kuhfladen werden entfernt – kein Beigeschmack darf das filigrane Aroma beeinträchtigen. Die Früchte werden von Hand sorgfältig aufgelesen, sortiert und dann in die Vergärung gegeben. Dieser aufwändige Prozess ist entscheidend für die Qualität und den einzigartigen Charakter dieser Obstbrände. Denn die restlichen zwanzig Prozent des Aromas entstehen durch die Vergärung beziehungsweise die Gärführung.
Fassreifung: Obstbrände im neuen Gewand
Die Spirituosenproduktion ist reich an Traditionen und Geheimnissen, aber die Grundlagen der Destillation sind im Idealfall gleichermaßen technisch und präzise. Wenn man seine Destillationsanlage beherrscht, gibt es wenig Raum für Fehler. Das Resultat dieser sorgfältigen Handwerkskunst ist Aqua Vitae – „Wasser des Lebens“. Es stellt den flüssigen Ursprung und den Beginn aller hochwertigen Spirituosen dar. Ein faszinierender Aspekt der Destillation ist der Zeitpunkt, wenn Spirituosen frisch aus der Brennblase kommen und sich durch gleiche Strukturen auszeichnen: Klar, rustikal und charakterstark. Hier offenbart sich bereits die Aromenstruktur des Obstbrands in ihrer reinsten Form.
Viele andere Spirituosen werden erst durch eine aufwändige Fassreifung veredelt und entwickeln erst dadurch ihren endgültigen Charakter. Im Gegensatz dazu zeigt der Obstbrand sofort seine volle Stärke. Von Anfang an besitzt er seine unverkennbare Charakteristik, die jede Frucht in ihrer aromatischen Einzigartigkeit unterstreicht. Dennoch spielt die Fassreifung auch bei Obstbränden in den vergangenen Jahren zunehmend eine Rolle. Typische Fassaromen anderer Spirituosenkategorien erweitern die bereits vorhandene Komplexität des Obstbrands – und wecken das Interesse über bereits vorhandene Kundenkreise hinaus. Auch Jahrgangsabfüllungen beziehungsweise „Age Statements“, ähnlich wie bei Whisky, werden bei Obstbränden zunehmend präsenter. Erst vor wenigen Wochen hat Etter eine Assemblage aus einem 8- bis 35-jährigen Kirsch veröffentlicht. Eine für Liebhaber aromatische Zeitreise mit interessanten Spuren vergangener Brenntechniken.
Botschafter des Obstbrandes
In der Welt der Spirituosen gibt es eine faszinierende Dynamik zwischen den Köstlichkeiten aus der eigenen Umgebung und dem Exotischen aus fernen Ländern. In den letzten Jahren entwickelte sich jedoch eine Vorliebe für Letzteres. Zu gerne lassen wir uns von den verlockenden Düften und exotischen Geschmackskombinationen verzaubern und tauchen in die flüssige Tradition fremder Kulturen ein. Diese Vorliebe birgt jedoch auch eine gewisse Ambivalenz: In der Faszination der Exotik neigen wir dazu, das Vertraute aus der eigenen Region zu übersehen.
Spirituosen beziehen heute ihren Wert aus Erlebnissen und Erinnerungen, die wir mit ihnen und der Herkunft verbinden. Obstbrenner und Obstbauern spielen eine wichtige Rolle bei der Erhaltung der kulturellen Landschaft, der Förderung der biologischen Vielfalt und der Stärkung der regionalen Identität. Ihr Engagement für seltene Sorten, einzigartige Biotope wie die Streuobstwiese und kurze Vertriebswege trägt dazu bei, die Nachhaltigkeit in der Spirituosenbranche zu fördern. Gleichzeitig stärkt es die Verbindung zwischen regionalen Produzenten und Verbrauchern.
Was braucht es, um den Obstbrand weiter voranzubringen? Es braucht Obstbrenner, die den Mut haben, alteingesessene Wege zu verlassen und zugänglichere Produktvariationen zu entwickeln – so wie es den Schweizer Brennern mit den Vieilles bereits gelingt. Es braucht Bars wie das Schoellmann´s in Offenburg, Sieferle & Sailer in Mannheim oder Karel Korner in Luzern: sie verstehen die Obstbrände als DNA und positionieren ihre Obstbrand-Drinks prominent. Es braucht Barkeeper wie Jonas Stein, Jan Nicolas Jehli und Domenico Termine, die wunderbare Drinks entwickeln, und natürlich Enthusiasten wie Arthur Nägele, der Schulungsprogramme wie den Obstbrand Sommelier ins Leben gerufen hat. Denn solange die Großindustrie die Obstbrände nicht für sich entdeckt und Millionen in das Marketing steckt, können nur Anstrengungen aus allen Richtungen dem Obstbrand die Plattform bieten, die er verdient.
Patrick Braun
Author von Obstbrände – Kultur & Genuss
zuerst erschienen im Drinks Magazin Deutschland